Mittlerweile ist Arrigo Sacchi seit rund 12 Jahren in Fußball-Pension, doch als Mitbegründer des modernen Pressings und der Raumdeckung, wird er in Italien noch heute als Trainer-Gott verehrt.
Mit dem AC Milan wurde er zweifacher Sieger des Europapokals der Landesmeister – dem Vorgänger der Champions League – und einmal Meister. Mit der italienischen Nationalmannschaft schrammte er nur durch Roberto Baggios legendären verschossenen Elfmeter am WM-Titel vorbei.
Mit der Milan-Legende hat Wettbasis vor dem Duell gegen Ligakrösus SSC Napoli über seine kriselnden Rossoneri gesprochen, was Milan und Napoli in der Champions League erreichen können und wer für ihn aktuell der stärkste Trainer in Italien ist.
Arrigo Sacchi: “Sieg ohne eigenen Verdienst kein echter Sieg”
Guten Morgen! Vielen Dank für Ihre Bereitschaft für das Interview. Napoli – Milan ist ein Klassiker in Italien und Sie haben 1988 durch einen Sieg in diesem Spiel die Meisterschaft gewonnen. Was denken Sie über das Spiel?
Arrigo Sacchi: “Es sind zwei Mannschaften, die einen emotionalen Fußball spielen. Beide versuchen, dem Gegner ihr Spiel aufzuzwingen und aktiv zu sein, indem sie einen mutigen Fußball spielen. Sowohl Napoli als auch Milan haben zwei sehr gute Trainer.
In Italien haben wir viele Trainer, die taktisch gut sind, aber nur wenige Strategen. Es gibt einen großen Unterschied zwischen beiden. Der Taktiker wartet nur auf die Fehler des Gegners und möchte die dann ausnutzen, während der Stratege ein großes Projekt hat und weiß, wie er es erreichen kann.
In diesem Jahr spielt der SSC Neapel sehr gut, weil er drei wichtige Dinge im Fußball umsetzt: eine große Motivation, einen extrem ausgeprägten Teamgeist und ein gute Spielidee. Diese drei Faktoren helfen den Spielern, sich nicht allein zu fühlen und ihre Leistungen ständig zu verbessern.”
Die beiden Clubs Milan und Napoli treffen sich ja in der Champions League, es um den Einzug ins Halbfinale. Wie ist Ihre Prognose für dieses Spiel?
“Ich habe noch nie beim Fußballtoto mitgemacht, weil man die Zukunft nicht vorhersagen kann. In diesem Fall hat Milan jedoch eine große internationale Erfahrung in der Vereinsgeschichte, während Napoli keine hat.
Aber was hat die Geschichte damit zu tun? Es zählt das Hier und Jetzt, oder? Es sind eben nur Zahlen.”
Die italienischen Mannschaften sind stark in den internationalen Wettbewerben vertreten in diesem Jahr. Woran liegt das? An der besseren Taktik?
“Der Taktiker, wie gesagt, wartet auf den Fehler des Gegners, um ihn zu bestrafen. Aber die Gründer dieses Sports hatten ihn als offensiven Mannschaftssport konzipiert, der hier leider seine ursprünglichen Merkmale verloren hat.
In Italien wurde Fußball zu einem individuellen und defensiven Sport. Es gibt einen Grund, warum alle Römer und Italiener immer versucht haben, sich zu verteidigen.
Auch im Fußball konnte ich es kaum glauben, dass ich zuerst einem Österreicher folgte, der in der Schweiz trainierte, und dann jemandem, der damit begann, einen Libero hinter einen Außenverteidiger zu stellen. Ich spreche von Ernst Happel. Und es schien uns unglaublich, weil wir Jahrhunderte gewartet hatten, uns mal eine wenig zu ändern.
Auch im Fußball fragte ich mich: Warum sind die italienischen Vereine aktuell international so gut? Weil zwei dieser Mannschaften strategisch und nicht nur taktisch aufgestellt sind. Die Bedeutung von Strategie? Wie gesagt, wenn man weiß, was man tun will und ein Ziel hat, wie man dorthin gelangen kann, ist man auf dem richtigen Weg. Und deshalb stehen Neapel und Mailand oben.
Bei uns gibt es auch eine kleine Mannschaft wie Atalanta Bergamo, die toll spielt. In den letzten Jahren hat sie Großes erreicht, weil sie sich unter Trainer Gasparini getraut haben, anders zu spielen. Mannschaften können ohne Wissen weder innovativ noch mutig sein.”
Die letzte Frage: Da Sie 1989 zum Trainer des Jahres gewählt wurden und einer der größten Trainer in der italienischen Geschichte sind: Wer ist Ihrer Meinung nach der beste Trainer derzeit? Es gibt ja viele.
“In diesem Jahr würde ich sagen, dass Spalletti der beste Trainer ist. Letztes Jahr hatte ich Pioli genannt, aber dieses Jahr hat sich etwas verändert. Es gibt drei oder vielleicht sogar mehrere großartige Trainer im italienischen Fußball. Einige von ihnen haben den defensiven Fußball hinter sich gelassen und begnügen sich nicht mehr mit der Rolle des Nebendarstellers.
Sie lassen offensiv agieren. Das Milan-Team, das ich damals glücklicherweise trainiert habe, war überall stark. Ich erinnere mich an ein Spiel gegen den FC Bayern München, bei dem wir versucht haben, die dominante Mannschaft zu sein.
Früher dachten wir, dass das beste Mittel um den Gegner zu stoppen ist, selber aktiv zu sein. Für uns bei Milan in den späten achtziger Jahren war ein Sieg ohne eigenen Verdienst kein echter Sieg. Daher haben wir unser Spiel aufgezogen und versucht, das Spiel zu kontrollieren. Jetzt haben Napoli und Milan dieselbe Einstellung übernommen, aber mit einem unterschiedlichen, noch dominanteren Ansatz.
Um eine beliebte Sportart zu bleiben, muss der Fußball Emotionen hervorrufen. Stell Dir ein Autorennen vor, bei dem alle mit 100 km/h fahren. Niemand würde das verstehen und verfolgen. Das gilt auch für den Fußball.”
Vielen Dank nochmals. Es war ein echtes Vergnügen, mit einem Experten des italienischen und internationalen Fußballs zu sprechen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag!
Arrigo Sacchi Interview: Carsten Fuß
