Heiko Herrlich hat in seinem Leben bereits einiges erlebt. Von Meisterschaft und Champions League, über Tumor-Erkrankung und mehrfachem Bruch des Gesichts.
Im ausführlichen Gespräch haben wir den 51-Jährigen getroffen, um über sein Leben, seine Karriere und seine Planung zu sprechen.
Ein großer Teil davon geht um seine Tumor-Erkrankung mit 28 Jahren, nach der er wie Sebastien Haller seine Profi-Karriere fortsetzen konnte. Und dennoch spricht er bei Haller von einem Wunder.
Heiko Herrlich über Tumor-Erkrankung: “In dem Moment alles wertlos”
Wettbasis: Herr Herrlich, Sie waren ja selber Stürmer. Bei Dortmund ist Sebastien Haller die entscheidende Figur gewesen in den letzten Wochen. Bei Bayern fehlt der Mittelstürmer. Ist das gerade der Unterschied? Also macht das gerade den Titelkampf aus, dass die Dortmunder einen Mittelstürmer haben der netzt, und die Bayern nicht?
Heiko Herrlich: “Ja, jetzt im Moment. Klar, ist es vielleicht für den Moment besser, aber es war halt die ganze Saison nicht so. Haller hat in der Hinrunde gefehlt, bei Bayern hat Choupo-Moting gespielt.
Ich bin der Meinung, gerade in Zeiten wo viel gepresst wird, kann und darf man auf einen großen Stoßstürmer gar nicht verzichten. Es gibt einfach Situationen im Spiel, wo man nicht hinten raus spielen kann, wo man eben nur den gezielten langen Ball auf den Stoßstürmer, auf den Kopfballpsieler, spielen kann, der dann ablegen kann auf die schnellen Spieler, auf Adeyemi und so weiter.
Das ist das einfachste Mittel, sich aus dem Pressing zu befreien, und Bayern fehlt der sicher ein Stück weit. Aber in diesem Fall, jetzt im Spiel gegen Köln, haben sie genügend spielerische Möglichkeiten, sich daraus zu befreien. Köln geht auch gerne hoch vorne drauf und presst gut.”
Sie als Fußballer haben ja viel erlebt. Was war das Thema oder was war die Sache, die Ihnen am eindrücklichsten noch in Erinnerung geblieben ist?
Herrlich: “Es waren sicherlich die Situation auf dem Platz, wenn man dann wirklich einen Titel geholt hat. Mit Mönchengladbach damals den Pokalsieg, mit Leverkusen, oder auch mit Borussia Dortmund dann die Deutsche Meisterschaft oder den Champions League-Titel oder in Tokio den Weltpokal-Titel.
Diese Momente, wenn du es dann geschafft hast und dann natürlich auch die Feierlichkeiten dazu, die vielen Menschen, die sich dadurch gefreut haben, denen in die Augen zu schauen, wenn du da mit dem Wagen durch Dortmund gefahren bist, das war schon immer was Besonderes.”
Der berühmte Lastwagen, von dem Jürgen Klopp immer gesprochen hat. War das wie eine Karnevalsparade? Oder wie muss man sich das vorstellen?
Herrlich: “Ja, das ist natürlich schon eine Situation, die auch lange geht. Du bist ja eigentlich auch kaputt von den ganzen Spielen, von dem ganzen Feiern, und dann stehst du da noch. Aber irgendwie fliegst du da durch, weil du viel Freude erlebst, um dich rum. Du willst die Freude natürlich teilen und zurückgeben.”
Gibt es vergleichbare Fans in Deutschland? Sie haben ja nun Einiges auch erlebt.
“In Deutschland gibt’s viele Vereine mit einer tollen Fankultur, bloß die haben jetzt den Titel nicht geholt die letzten Jahre. Aber ich glaube, wenn jetzt in Köln so was passieren würde, Köln hat super Fans oder auch Mainz hat super Fans, oder Frankfurt hat man letztes Jahr gesehen.
Ich glaube, wir haben schon tolle Fans in Deutschland, und können da froh und dankbar sein. Was Frankfurt letztes Jahr da gemacht hat in Barcelona, in Camp Nou, das war schon sensationell!”
Wenn wir jetzt über Ihren Werdegang sprechen, dann sind Sie relativ früh schon in eine Profimannschaft gegangen und haben erfolgreich gespielt. Was braucht es, um solch eine Karriere zu machen?
“Du brauchst natürlich viel Talent. Das ist erstmal die Basis. Du musst eine hohe Disziplin haben, du musst als Jugendlicher dann auch viel arbeiten. Heute ist es ja nochmal extremer als früher, als zu meiner Zeit Mitte der 80er Jahre.
Da gab es ja noch keine Leistungszentren, da gab es zwei-, dreimal in der Woche Training, und mein Vater hat mich da immer hin und her gefahren nach Freiburg. Heute ist das alles noch professioneller. Den Kindern wird noch mehr abverlangt, den Jugendlichen, und dann gehört natürlich dazu, dass du Ausdauer hast und eine Widerstandsfähigkeit, nach Rückschlägen auch dabeizubleiben, und deshalb schaffen es halt eben auch nur ganz wenige.
Wenn die es dann schaffen, als Jugendspieler dann ein Lizenzspielervertrag zu bekommen, dann ist das, wenn du auf dem Poster das erste Mal erscheint, ja nicht das Ziel, sondern das ist dann wieder ein neuer Anfang, wo du dich neu durchsetzen musst, wo du neue Leistungen bringen musst, Tag für Tag, Woche für Woche, und das ist kein leichter Job.
Das ist ein schöner Job, aber er kann auch bei Misserfolg grausam sein. Das muss jeder wissen.”
Sie haben auch den Titel als Torschützenkönig errungen. Wenn wir jetzt die Stürmer-Situation mal analysieren, wie sehen Sie genau die Problematik aktuell?
“Das war so Mitte der 2000er, als ich Trainer geworden bin, war ich ja auch viel im Jugendbereich, und ich habe mich damals schon immer gewundert, dass man diese großen, schlaksigen eher aussortiert, weil es halt nicht so elegant aussieht und man dann denkt, dass die technisch nicht so stark werden können.
Ich erinnere an Jan Koller, einen Mitspieler von mir, der zwei Meter groß war, ein ganz feiner Techniker, aber es sah halt nie so elegant aus, wie wenn ein kleiner Spieler sich da ich irgendwie durchfummelt. Über die Jahre habe ich die Diskussion oft nicht verstanden, mit der falschen Neun. Das ist sicherlich ein taktisches Mittel, was man auch öfters anwenden kann.
Aber es ist nicht gut, wenn man gegen eine pressende Mannschaft spielt und keine Möglichkeit hat, sich hinten, durch einen langen, gezielten Ball auf einen großen Mittelstürmer, rauszuspielen, der den Ball ablegt oder verlängert. Wenn man da zwei schnelle Außen oder Achter hat, dann muss der Gegner im Eins-gegen-Eins, Zwei-gegen-Zwei, rückwärts verteidigen.
Mit einem langen Ball hat man acht, neun Spieler ausgespielt. Deshalb ist das immer ein wichtiges Instrument. Auch gegen eine Mannschaft, die tief steht und sich einbunkert, wo man mit spielerischen Mitteln nicht durchkommt, muss man halt versuchen, im Strafraum dann über hohe Bälle einen Kopfballspieler anzuspielen, der ablegen oder selbst verwerten kann.”
Den haben wir aber aktuell nicht, also in Deutschland.
“Ja, das ist schade. Das ist schade, weil ich sehe, wenn ich Jugendspiele anschaue, auch im kleineren Bereich, immer Spieler, die groß sind, die die Voraussetzungen haben.
Keine Ahnung, da müssen sie die Leistungszentren in Deutschland fragen, warum die aussortiert wurden. Statistisch wachsen die Kinder eigentlich eher und sind größer, die Menschen wachsen eigentlich höher, aber man findet immer weniger von denen.”
Heiko Herrlich privat: “Dann interessiert dich nur noch zu überleben”
Dann kam, und das wissen ja jetzt nicht so viele, Ihre Erkrankung, ein Gehirntumor, der erfolgreich behandelt wurde. Welches Erlebnis war das?
Heiko Herrlich: “Wir waren im Jahr davor fast abgestiegen mit Borussia Dortmund. Udo Lattek hat uns am Ende gerettet. Ich war 28 und hab gedacht, meine Güte, vor ein paar Jahren waren wir Deutscher Meister, Champions League Sieger und jetzt sind wir fast abgestiegen, obwohl wir Deutscher Meister werden wollten.
Ich wollte mich natürlich in der Sommerpause optimal vorbereiten und eine gute Saison spielen, so dass ich sowas nie mehr erleben muss. Und ich war bis zu diesem November eigentlich auf einem guten Weg, habe, glaube ich, in elf Spielen acht Tore gemacht, im Pokal schon dreimal getroffen gehabt, und dann hatte ich halt plötzlich Doppelbilder links und rechts.
Die Folge war halt dann Neurologe, Augenarzt, und dann hat man festgestellt, dass ich einen kleinen Hirntumor hatte und in dem Moment ist alles wertlos. Dich interessiert nicht mehr, ob du am Wochenende ein wichtiges Spiel hast, was drum rum ist. Es interessiert dich eigentlich nur noch zu überleben, gesund zu werden.
Meine Ex-Frau war damals mit unserem ersten Kind schwanger, und das sind dann die Prioritäten, die du setzt. Es war eine ganz komische Situation. In dem Moment hat man einfach andere Probleme, andere Sorgen, als ein Spiel zu gewinnen.”
Aber Sie haben es ja auch mit Hilfe der Medizin dann bewältigen können. Wie lief der Prozess?
“Man hat verschiedene Untersuchungen gemacht, bis dann am Ende, nach fünf Wochen circa, Anfang Dezember, eine Biopsie gemacht wurde. Da geht eine kleine Nadel durchs Gehirn, mitten in diesen Tumor rein, der relativ klein war, circa ein Zentimeter Durchmesser, mitten im Kopf.
Dieses Prozedere ging ungefähr fünf Stunden, weil man eben keine Gefäße und keine Adern treffen möchte. Um mal festzustellen, was für ein Tumor ist es eigentlich, was für eine Art von Feind, damit man auch die Waffen letztendlich hat, um den zu bekämpfen.
Da hat sich dann rausgestellt, dass das ein bösartiger, schnell wachsender Tumor ist, aber der einzige eigentlich, der unter Bestrahlung schmilzt wie Butter. Was für mich ein Sechser im Lotto war. Das sage ich, weil an der Stelle, wo ich den Tumor hatte, konnte man eben nicht operieren. Das haben die Ärzte mir von Anfang an gesagt, weil da die ganzen Nervenbahnen zusammenlaufen.
Dann ging das praktisch ab Januar dann mit der Bestrahlung los für fünf Wochen, dass der Tumor dann weg war. Danke, lieber Gott! Ja, und danach kam noch eine Bestrahlung, die ging circa sechs, sieben Wochen. In Heidelberg ist das ganze Rückenmark, der ganze Kopf bestrahlt worden, und das hat schon Substanz gekostet.
Also, ich hab jede Nebenwirkung mitgenommen. Mir sind die Haare ausgefallen, und das war noch das wenigste. Ich konnte nichts mehr essen, hatte keinen Appetit mehr, ich war richtig geschlaucht, und das ging dann auch, als das fertig war, noch einige Zeit, bis ich wieder Appetit hatte, bis ich wieder Hunger hatte. Ich hatte sechs, sieben Kilo verloren, bis das alles zurückkam.
Im September oder im Oktober stand ich dann das erste Mal wieder auf dem Platz. Deshalb dieses Jahr zu Saisonbeginn die Nachricht mit Sebastien Haller, eigentlich wie ein Wunder, dass er da zurückkam, auch nach einer OP, dann noch mit Chemo. Dass er das so wegsteckt und jetzt die Leistung wieder bringt, umso bemerkenswerter!”
Sie können sich insofern auch in ihn bestens hineinversetzen.
Herrlich: “Absolut, weil in dem Moment steht natürlich die Familie, er hat Kinder, im Vordergrund. Natürlich will man wieder gesund werden. Aber als Erstes will man gesund werden, um mit seiner Familie weiterzuleben oder einfach als Mensch zu überleben, deine Kinder groß zu ziehen.
Im zweiten natürlich auch ist es ein Geschenk, wenn man dann auch noch mal dem Beruf nachgehen kann. Umso schöner, dass er das beides geschafft hat, und ich wünsche ihm auch wirklich, dass er gesund bleibt.”
Haben Sie damals nochmal so zurückgefunden wie vorher?
“Nein, nicht wirklich. Ich hab zwar nochmal ein wichtiges Tor gemacht im UEFA-Pokal gegen Kopenhagen, dann war ich auf einem guten Weg. Bei der Meisterschaft 2002 hatte ich auch viele Einsätze, kam dann öfters zum Einsatz, war auf dem Weg, wieder der Alte zu werden, und dann habe ich zwei Tage vor der Meisterschaft 2002 im Training einen Ellenbogen ins Gesicht bekommen.
Da war alles zerstört, Bogen, Nasenbein, Kiefer, Kieferhöhlenwand. Ich war drei Tage auf der Intensivstation, hab auch heute noch Platten drin, um das zusammenzuhalten, und man vermutet, dass durch die Bestrahlung die Knochendichte vielleicht nicht mehr ganz so fest war wie davor.
Auf jeden Fall war ich danach immer gehemmt in die Zweikämpfe zu gehen, was mich ja davor mal stark gemacht hat. Deshalb ist mir die Chance verwehrt geblieben, dann nochmal richtig gute zu spielen und mein volles Potenzial auszuschöpfen.
Aber ich möchte nicht klagen. Ich bin sehr dankbar, dass ich das damals überlebt habe. Also über mangelndes Glück darf ich mich nicht beschweren.”
Ich weiß, wenn wir da auch noch in die Tiefe gehen können, dass Sie tatsächlich auch gläubig sind, also insofern auch glauben, dass es etwas mit Ihrer Religion beziehungsweise mit Ihrer Überzeugung zu tun.
“Also, ich bin nicht religiös, ich glaube an Gott. Aber für mich war irgendwann auch die ganz simple Erkenntnis da, egal ob du eine schwere Krankheit hast oder nicht, du wirst irgendwann gehen, du wirst irgendwann sterben.
Und das dann mit Vertrauen trotzdem in Gottes Hand zu geben und zu sagen, ja, Ausgang offen, ich vertraue dir trotzdem in der Situation. Man kann ja jetzt nicht sagen, einer glaubt nicht, deshalb stirbt er dann, und der, der glaubt, der wird auf jeden Fall gesund. Es gibt genügend Kämpfer und genügend Gläubige, die trotzdem einer schweren Krankheit unterliegen.
Du wirst irgendeines Tages, irgendwann gehen. Die Frage ist halt, wie du damit umgehst, und ich bin da sehr dankbar, dass ich weiterleben darf, durfte.”
Ja, und zwar noch sehr lange.
(lacht) “Hoffe ich.”
Deutschland-Erfolg bei der EM? “Habe meine Zweifel”
Wir sind jetzt wirklich sehr tief reingegangen in Ihre Geschichte. Kommen wir noch mal, wenn es geht, zurück zu der aktuellen Situation. Ich meine, Sie waren sehr erfolgreich auch als Trainer, zuletzt jetzt Augsburg. Wir sind Ihre Pläne aktuell?
“Es kommt immer wieder die eine oder andere Anfrage rein. Manchmal passt es überhaupt nicht, manchmal passt es, aber es wird sich für jemand anders entschieden.
Ich bin weiter in der Warteschleife, und wenn etwas Interessantes kommt, bin ich natürlich offen und würde natürlich gerne wieder als Trainer an der Seitenlinie stehen.”
Noch ein Wort. Wir haben es schon angerissen. Zur Deutschen Nationalmannschaft, die ja nun zweimal hintereinander bei einer WM frühzeitig abgereist ist: Was läuft denn da gerade falsch?
Herrlich: “Ich habe da auch nur Informationen von Außen. Ich sehe die Spiele, und die sind natürlich wirklich teilweise nicht schön anzuschauen gewesen.
Da hat auch viel gefehlt, um weiterzukommen, um wichtige Spiele zu gewinnen, um in die Endrunde zu kommen oder in die Finalspiele. Man kann jetzt nur hoffen, dass sich da bald was ändert. Weil die Nationalmannschaft wird immer Zugpferd bleiben, auch von der Bundesliga, und es ist wichtig, dass wir auch international Erfolg haben.”
Werden wir das bei der EM schon haben können?
“Bisher habe ich so meine Zweifel. Aber ich weiß noch 2004, als Jürgen Klinsmann übernommen hat, gab es auch viele schwache Spiele, gerade in der Vorbereitung zur Weltmeisterschaft im eigenen Land. Ich kann mich erinnern, ein Spiel in Leverkusen gegen Japan, da stand es zur Halbzeit 0:2 für Japan.
Man hat dann mit Ach und Krach noch ein 2:2 gemacht. Da hat auch keiner irgendwas noch auf Deutschland gesetzt, und am Ende war es eine tolle WM. Wir sind Dritter geworden, haben das Halbfinale gegen Italien verloren. Diese Hoffnung habe ich halt immer noch, denn damals war es auch sehr ruckelig, und plötzlich hat man irgendwie etwas durchbrochen.
Schon mit dem ersten Spiel gegen Kolumbien, glaube ich, war der Bann gebrochen, und darauf hoffen wir alle.”
Dann bedanke ich mich für dieses ausführliche und inhaltsreiche Gespräch. Heiko Herrlich wird also tatsächlich dann beim BVB aus der Ferne mitfeiern. Darf ich das so sagen?
Heiko Herrlich: “Ja, auf jeden Fall werde ich mir das anschauen.”
Vielen Dank, und auf bald.
Herrlich: “Bis bald, Ciao!”