Derzeit gibt es wenig zu Lachen für die DFB-Elf, mit der klaren Niederlage gegen Kolumbien schlittern Hansi Flick und sein Team tiefer in die Krise.
Der Coach steht, ebenso wie sein Team, heftig in der Kritik. Doch ist das berechtigt? Und wie viel Zeit sollte der Sextuple-Sieger der Bayern noch bekommen?
Gemeinsam mit Sportjournalist und Flick-Biograf Günter Klein haben wir uns an eine Standortbestimmung der deutschen Nationalmannschaft, samt Entwicklung unter Flick, gewagt.
Günter Klein über Hansi Flick: “Überrascht, wie es ihm aus den Händen geglitten ist”
Wettbasis: Zum Thema Hansi Flick haben wir einen extrem kompetenten Gesprächspartner, nämlich Günter Klein.
Günter Klein: “Hallo, guten Morgen!”
Günter Klein verfolgt seit mehr als 30 Jahren die Deutsche Fußballnationalmannschaft. Acht Weltmeisterschaften haben Sie schon auf Ihrem Colt. Außerdem haben Sie eine Biografie geschrieben, über Hansi Flick. Deshalb sind Sie nun wirklich ein intimer Kenner des Bundestrainers. Was passiert da gerade konkret?
Günter Klein: “Ja, ich bin auch ein bisschen erstaunt, weil ich diesen Einstieg von Hansi Flick bei der Nationalmannschaft als sehr souverän wahrgenommen habe, sehr selbstbestimmt. Er hat ein Team um sich herum aufgestellt, das wirklich seinen Charakter als Trainer wiedergegeben hat, und er hat ganz klare Vorstellungen an die Mannschaft adressiert, wie zu spielen ist.
Das hat man sogar in diesem relativ leicht zu gewinnenden ersten Spiel der WM-Qualifikation gegen Liechtenstein gemerkt, dass da ein ganz frischer Wind in der Nationalmannschaft weht, und dieser Wind ist jetzt kaum mehr wahrnehmbar. Es gab so einen Knick vor der Weltmeisterschaft, da hat er seine Prinzipien vergessen.
Das Prinzip war, eine Mannschaft einzuspielen und die Nationalmannschaft so zu führen, wie eine Vereinsmannschaft. Nach dem Vorbild von Italien, die auf diesem Weg Europameister 2021 geworden war. Und plötzlich gab’s wirre personelle Abweichungen, hastige Last-Minute-Nominierungen für die Weltmeisterschaft.
Leute, die dann kurz vor der Weltmeisterschaft noch beim Testspiel im Oman debütiert haben. Und nach der Weltmeisterschaft ist es in ein fast nicht mehr zu überschauendes personelles Experimentieren übergegangen. So, dass eigentlich eine Linie, wohin diese Mannschaft gelangen soll, momentan nicht erkennbar ist.
Also, ich bin da auch etwas überrascht, wie ihm das aus den Händen geglitten ist.”
Sie sagen, er hat seine Prinzipien über Bord geworfen?
Klein: “Das kann man so sagen. Das wichtigste Prinzip war eben, diese Mannschaft so zu führen, dass diese Spieler auch ständig im Kopf haben, sie sind Nationalspieler. Das funktioniert allerdings nur, wenn ich auch einen gewissen Stamm habe und Leuten auch die Sicherheit gebe, dass sie Nationalspieler sind.
Das ist bei einigen Personalien momentan ja völlig ungeklärt. Ist Thomas Müller noch ein Nationalspieler? Kann Mats Hummels wieder Nationalspieler werden? Wie ist es bei anderen, die jetzt ein-, zweimal vielleicht dabei waren? Wie wird man mit denen weiter verfahren?
Er hat jetzt eine unglaublich große personelle Auswahl. Aber da dann noch eine Bindung herzustellen, zu diesem Projekt, das fällt schon sehr, sehr schwer, und eben auch auf dem Spielfeld. Wir hatten eine ganz klare Linie zu Anfang. Dieser Vorsatz, dass praktisch mit jeder Aktion irgendwas geschehen muss, das den Gegner stresst.
Aggressiv anlaufen, was man sogar damals in St. Gallen gegen Liechtenstein als deutliche Veränderungen im deutschen Spiel wahrnehmen konnte, das hat sich jetzt völlig verflüchtigt. Gerade wenn man sich jetzt dieses Spiel gegen die Ukraine, dieses 3:3 in Bremen anschaut, da war ja von diesen guten Vorsätzen überhaupt nichts mehr übrig.”
Jetzt gibt es natürlich auch schon Menschen, die sagen, man muss den Bundestrainer austauschen. Da kommt dann dazu, dass die Coachig-Qualitäten in Frage gestellt werden. Auch bei der WM, sowohl aufstellungstechnisch, als auch die Maßnahmen während des Spiels, die haben alle nicht funktioniert. Warum nicht?
“Das ist manchmal auch ein bisschen Trainerglück, ob dann letztendlich was funktioniert. Ich glaube, dass er eigentlich schon ein sehr guter Coach ist. Man coacht ja heutzutage als Chef-Trainer nicht mehr alleine.
Man hat ja auch diverse technische Tools zur Verfügung, man hat Co-Trainer, die das Spiel beobachten, man hat Analysten auf der Tribüne. Das geschieht ja alles in Echtzeit, man hat da schon Möglichkeiten einzugreifen. Das Problem sehe ich eher in einem anderen Bereich. Ob diese Mannschaft sich wirklich als seine Mannschaft fühlt.
Ob sie bereit ist, auch für ihn zu spielen, so wie das sicherlich bei Bayern München der Fall war. Vor zwei, drei Jahren, als er da ziemlich überraschend an die Chef-Trainer-Position gekommen ist und die Spieler sich für ihn starkgemacht haben, weil sie auch erkannt haben, da ist menschlich unglaublich viel da. Da ist Verlässlichkeit bei Hansi Flick, da ist Empathie neben dem Fachwissen.
Und gerade in der Corona-Zeit sind ja da ganz enge Bande entstanden, zwischen dem Trainer und der Mannschaft, die letztlich dann auch diesen Erfolg beim FC Bayern, mit sechs Titeln in einem Jahr und einem siebten hinterher, dann letztlich auch ermöglicht haben. Aber die Frage ist momentan: Erreicht Hansi Flick diese Mannschaft auf der Ebene, auf der sie sonst auch immer erreicht hat, und zwar so, dass diese Mannschaft wirklich bereit ist, für ihn etwas zu geben?
Ich glaube, dass irgendjemand jetzt Ressentiments gegen ihn hat, das ist sicher nicht der Fall. Aber es braucht manchmal mehr als ein neutrales Verhältnis gegenüber dem Trainer, um sich da wirklich voll einzubringen als Spieler.”
Klein über Flick: “Außendarstellung war nie Königsdisziplin”
Eben weil Sie diese Biografie geschrieben haben, haben Sie viel recherchiert und sich mit ihm auseinandergesetzt, mit der Persönlichkeit. Was ist gerade mit ihm los? Kriegt er die Kurve noch einmal?
Günter Klein: “Hansi Flick wirkt momentan ein bisschen ratlos. Das muss man schon eingestehen. Ich glaube allerdings, dass er natürlich schon irgendeine Vorstellung hat, wie es bei der Europameisterschaft laufen soll.
Er ist vielleicht auch ein bisschen in eine Verunsicherung reingeraten. Denn, als er beim DFB angefangen hat, ist er davon ausgegangen, über eine sehr große Machtfülle zu verfügen und mit Oliver Bierhoff einen Ansprechpartner zu haben, den er seit 2006 kennt, als er damals beim DFB als Assistent von Jogi Löw eingestiegen ist.
Jetzt ist Oliver Bierhoff weg, die Weltmeisterschaft wider Erwarten auf eine Art und Weise missglückt, die nachwirkt. Es ist der Druck da, durch die ja schon wirklich nahende Heim-Europameisterschaft, die ja auch mit einer hohen gesellschaftlichen Erwartung verbunden ist.
Es ist ein gewisser Druck auf ihn da, auch personell irgendwas Neues zu bieten, obwohl es eigentlich personell nichts Neues geben kann. Denn die Spieler, die zur Verfügung stehen könnten, die kennt man ja alle, und man kennt die ganzen Defizite, die sich aus der Ausbildungsstruktur im deutschen Fußball ergeben haben. Also, es ist eine Art von Mangelverwaltung, die er betreiben muss. Ich glaube aber schon, dass er einen Plan hat, wie man diese Mängel auffangen kann.
Nämlich dadurch, dass man eben auf den Positionen, auf denen man gut besetzt ist, halt wirklich so gut performt, dass die anderen irgendwie mitgerissen werden. Was auch früher schon bei deutschen Nationalmannschaften in den 80er Jahren zum Beispiel der Fall war, als man eigentlich auch schon nicht die besten Spieler der Welt hatte, aber zweimal in einem Weltmeisterschaftsfinale dann gelandet ist.
Ich glaube, so ungefähr in die Richtung stellt er sich das vor. Aber er ist momentan sicher auch noch auf der Suche, wer denn überhaupt die Korsettstangen der Mannschaft sind, an denen die anderen sich dann auch mal festhalten können.”
Reden wir nochmal über die Außendarstellung. Sie haben in einem Tweet auch sehr süffisant kommentiert, wie Flick Joshua Kimmich charakterisiert hat. Auf einer Ebene mit Kobe Bryant. Da haben Sie dann geschrieben: Ja, der schwimmt schneller als Michael Felps und fährt besser Auto als Fangio. Was macht er da gerade falsch? Oder warum haben Sie ihn da mal kurz ins Achtung gestellt?
Klein: “Die Außendarstellung war nie die Königsdisziplin von Hansi Flick. Dazu musste er immer fast genötigt werden, dass er auch mal auf eine Pressekonferenz geht. Er ist ein sehr guter Kommunikator, aber intern. Das kann man sich gar nicht vorstellen, bis man es mal wirklich recherchiert hat und bestätigt bekommen hat.
Er spricht unglaublich viel mit Menschen, aber davon kriegt halt die Öffentlichkeit nichts mit. Er ist im ständigen Kontakt mit den Bundesligatrainern und -managern, mit den Spielern, er unterhält ein Netzwerk von deutschen Trainern im Ausland. Hansi Flick ist da immer offen für neue Informationen, ist erreichbar, und ruft von sich aus an.
Das war ja bei seinem Vorgänger, zumindest in den letzten Jahren, nicht mehr der Fall. Jogi Löw hat sich ja total abgekapselt und Hansi Flick hat diese Kommunikation wieder geöffnet. Er ist halt etwas ungeschickt nach Außen. Da hat er vielleicht auch nicht das Gespür, vielleicht auch nicht die Medienkenntnis, weil er sich mit der Medienwelt jetzt halt nicht sehr intensiv auseinandersetzt, sondern seine Energie mehr auf die Arbeit mit seinen Spielern konzentriert.
Da ist ihm bei Bayern München auch mal mit einer flapsigen Äußerung über Karl Lauterbach einiges misslungen, wo dann der Beifall natürlich von der falschen Seite gekommen ist und er erschrocken ist. Da hat er sich dann ja auch schnell entschuldigt und mit Karl Lauterbach in Kontakt getreten.
In diesem Fall Kimmich, wollte er natürlich dem Spieler was Gutes tun. Er wollte ihn so darstellen, dass er praktisch außerhalb jeder Diskussion stehen sollte, und durch diese Überhöhung ist das natürlich nicht geglückt. Und Leute, die etwas medienkundig sind, die haben eigentlich schon in dem Moment gemerkt, als es ausgesprochen worden ist, dass er damit dem Spieler keinen Gefallen getan hat. Weil dadurch eine Spirale an Ironie in Gang gesetzt wird
So läuft es halt in den sozialen Medien. Es ist natürlich ein legitimer Spaß, finde ich. Es ist ja auch nicht böse gemeint, dieses Bild vom sportlichen Alleskönner noch ein bisschen weiterzuentwickeln. Aber für den Spieler ist es nicht optimal.
Aber da bräuchte es natürlich auch seitens des DFB mal eine Beratung, dass man vor der Pressekonferenz eruiert, was könnten denn für Fragen kommen und wie kann man auf diese Fragen reagieren.”
Das gehört zum Job.
“Ja, genau! Gehört zum Job, gehört zum Kerngeschäft, dass man einerseits die Medien zufriedenstellt, allerdings auch nicht leichtfertig in der Mannschaft vielleicht Unfrieden stiftet.”
Jetzt fordern ja viele schon, auch ironisch übrigens, einen Wechsel. Beziehungsweise schlagen dann ironischerweise Bruno Labbadia vor oder andere Kandidaten. Auch in den sozialen Medien. Sehen Sie die Notwendigkeit einer Ablösung?
“Ich sehe die Notwendigkeit jetzt nicht. Die würde auch nicht in die Geschichte des DFB passen. Auf der Bundestrainer-Position nimmt man Veränderungen nach einem Turnier vor.
Es gab eigentlich nur den einen Fall in der Geschichte, Berti Vogts 1998, der dann nach zwei Testspielen auf Malta zurückgetreten ist. Was allerdings auch noch eine Spätfolge des Viertelfinal-Aus 1998 gegen Kroatien war.”
“Füße aus Malta”. Das Zitat von Rudi Völler kennen Sie auch? Es ging da um Oliver Bierhoff konkret.
Günter Klein: “Genau. Das war eigentlich der einzige historische Fall in der DFB-Geschichte, dass es mal so einen Wechsel mittendrin gab.
Der Verband kann es sich momentan sicher auch nicht leisten, einen Bundestrainer und sein vielköpfiges Team freizustellen und weiter zu bezahlen und auf der anderen Seite einen neuen Trainer zu bezahlen, mit einem neuen Team, vielleicht auch Ablösen zu entrichten. Also, ich halte das für sehr unrealistisch.
Rudi Völler hat sich ja auch relativ klar jetzt positioniert, dass da jetzt nicht geschehen wird.”
Wie DFB-Präsident Bernd Neuendorf auch übrigens.
“Ja, es kam von vielen Seiten. Ich glaube auch, dass es jetzt in der Mannschaft auch keinen Aufstand gegen Hansi Flick gibt. Dass sie sagen, er wäre ein totaler Wirrkopf, oder mit dem wollen wir aus irgendeinem Grund nicht arbeiten.
Ich denke schon, man spielt da auf Zeit. Jetzt erst mal drei Monate Pause bei der Nationalmannschaft, es kommen neue Themen, da wird sich auch einiges beruhigen. Vielleicht gibt es ja auch einen soliden Sieg. Dann werden die Diskussionen auch wieder ein bisschen leiser.
Dann muss Hansi Flick im September vielleicht mal eine klare Linie kommunizieren, wie es in den letzten neun Monaten bis zur Europameisterschaft gehen soll. Aber ich glaube, dass das nicht mehr so heiß gegessen wird, wie es jetzt momentan auf den Teller gelegt wird.”
Joshua Kimmich? “Bei weitem nicht Weltklasse”
Kann Hansi Flick mit seiner Art, wie er mit Spielern umgeht, wie er eine Mannschaft führen will, die nötigen Stellschrauben noch drehen in der Nationalmannschaft, oder hat er dafür zu wenig Zeit? Hat er die Spieler in zu wenigen Trainingseinheiten? Hat er die Spieler zu wenig in Kontakt, als dass er da eingreifen könnte? Denn ich glaube, ohne mich da jetzt mal zu weit aus dem Fenster zu sehen, ist Hansi Flick für mich tatsächlich eher ein Vereinstrainer als ein Nationaltrainer.
Klein: “Grundsätzlich kann er das schon. Also, wie ich schon sagte, er ist viel Kommunikator, und er wird die Spieler nicht in Ruhe lassen. Die werden also ständig von ihm zu hören bekommen. Klar, die Zeit bei der Nationalmannschaft ist überschaubar.
Weswegen es ja auch von manchen Seiten als ärgerlich wahrgenommen wird, dass man zunächst im März viel Zeit hat liegen lassen und jetzt zehn Tage zusammen ist und eigentlich keine wesentlichen Erkenntnisse gewinnen wird. Außer vielleicht, dass Malick Thiaw eine gute Option sein kann für die Innenverteidigung. Ich glaube, dass er als Coach eigentlich schon so gefestigt ist, dass er grundsätzlich in der Lage ist, da noch positiv einzuwirken.
Die Grenzen, die ihm gesetzt sind, ergeben sich eben einfach aus der Personalauswahl. Da muss man fragen, hat Deutschland im Moment Weltklassespieler? Ich sehe Spieler, die mal in die Weltklasse vorstoßen können. Wie Wirtz, Musiala, Havertz. Aber zum Beispiel einen Joshua Kimmich, oder Leon Goretzka, würde ich, nach den Eindrücken der Weltmeisterschaft, bei weitem nicht in der Weltklasse sehen.
Also, da hat sicher auch Rudi Völler, wenn er da auf den Vergleich mit dem Weltmeister Argentinien kommt, sicher eine sehr eingefärbte Sichtweise. Wenn er sagt, dass man von dem Vermögen der Einzelspieler nicht so weit weg wäre vom Weltmeister. Da ist momentan schon eine ganz erhebliche Lücke zu den Spitzen-Nationen.”
Würden Sie Joshua Kimmich als Coach jetzt rechts hinten aufstellen oder im Mittelfeld? Lothar Matthäus hat gesagt, rechts hinten wäre er für ihn.
“Das wäre fast schon eine menschliche Härte, Joshua Kimmich jetzt rechts hinten aufzustellen, weil er diese Position ja eigentlich nie hat spielen wollen. Er hat sie dann gespielt, weil er da irgendwie mal in die Philipp Lahm-Nachfolge reingeraten ist, bei der Europameisterschaft 2016, nach einem Bundesligajahr.
Er hat ja da durchaus gute Spiele geliefert. Aber eigentlich ist er ja ein Mittelfeldspieler. Aber es muss vielleicht eine Entscheidung getroffen werden, ob er in dieser Achse das wesentliche Element sein wird oder eben Ilkay Gündogan.
Also für mich könnte es eher darauf hinauslaufen, dass Joshua Kimmich vielleicht mal überhaupt nicht zur ersten Elf gehört, sondern sich auf die Bank setzen muss.”
Wir bedanken uns, dass Sie sich hier mit uns unterhalten haben, über dieses wunderbare Thema, Hansi Flick, ja oder nein? Bis zum nächsten Mal.
“Vielen Dank für die Einladung. Viel Spaß weiterhin.”
Günter Klein Interview: Carsten Fuß.