Als Profi darf Jürgen Kohler eine illustre Karriere sein Eigen nennen. Deutscher Meister mit Bayern München und dem BVB, dazu ein schwarz-gelber Champions-League-Sieg und Erfolge bei Juventus Turin, gekrönt vom Welt- und Europameistertitel mit Deutschland.
Der Verteidiger hat also viel erlebt und einiges an Erfahrung angesammelt, vor allem bei den zwei Teams des “Klassikers”, die an diesem Wochenende wieder aufeinader treffen. Im Gegnsatz zu vorherigen Jahren, geht es dabei nicht direkt um die Meisterschaft, aber eine Vorentscheidung könnte dennoch fallen.
Im ausführlichen Interview bei Beidfüßig analysiert Kohler das Spiel aller Spiele in Deutschland.
Jürgen Kohler glaubt an Dortmunder Überraschung: “Besitzen die Stärke”
Wettbasis: Der 27. Spieltag, der hält ein Ostergeschenk bereit, nämlich den Klassiker Bayern München gegen den BVB. Als Gast fungiert ein Weltmeister, Europameister und Champions League-Sieger. Hallo Jürgen Kohler.
Jürgen Kohler: “Hallo, ich grüße Sie.”
Europameister sind Sie geworden mit dem Golden Goal von Oliver Bierhoff. Sie waren Kapitän des Teams, aber leider schon nach 14 Minuten im ersten Spiel gegen Tschechien verletzt raus. Das noch mal zur Erinnerung.
Kohler: [lacht] “Manche sagen, deshalb sind wir Europameister geworden. Da ist mir Pavel Kuka aufs Knie gefallen. Also, ich habe den so ein bisschen von der Seite weggetackelt, habe dann den Ball gespielt und er ist sehr unglücklich, da kann der aber nichts dafür, auf mein Knie gefallen.
Aber Gott sei Dank ist da nicht viel kaputt gegangen. Also ich glaube, ich habe nach fünf Wochen oder so schon wieder gespielt.”
Sie waren ja auch mit dem BVB Champions League-Sieger. Ich war beim Spiel 1997, im Olympiastadion München gegen Juventus Turin, auch dabei.
Kohler: [lacht] “Ich war auch dabei.”
Welche Erinnerungen haben Sie noch daran?
Kohler: “Natürlich nur Positive. Damals war Juventus Turin das Maß aller Dinge. Die haben sehr souverän in der Meisterschaft den Titel geholt, sind italienischer Pokalsieger geworden und eigentlich hat man dann mit dem Triple gerechnet. Wir hatten in diesem Jahr sehr viel Verletzungspech, mit vielen Stammspielern.
Da haben die Jungs, die hinten dran waren, natürlich dann auch wirklich außergewöhnliche Leistungen gebracht. Deshalb sind wir dann, am Ende des Tages auch verdient, gegen Juventus Turin im Endspiel gestanden.
Und ich finde, verdient dann auch das Spiel gewonnen, weil wir eben sehr gut verteidigt haben und aus den Großchancen, die sich für uns ergeben haben, sofort Kapital geschlagen. So funktioniert eben auch manchmal Fußball, dass nicht immer der bessere gewinnt.”
Jetzt geht’s gleich zum Thema, Bayern gegen den BVB. Die Favoritenrolle ist klar. Glauben Sie trotzdem, dass Borussia Dortmund die Überraschung da schaffen kann?
Kohler: “Ich glaube schon dran, weil die Bayern natürlich auch, gerade in diesem Jahr, sehr vielen Leistungsschwankungen, aus verschiedenen Gründen wahrscheinlich, unterlegen sind. Sie sind zehn Punkte hinter Bayer 04 Leverkusen.
Allerdings ist natürlich auch Borussia Dortmund, wenn ich es richtig im Kopf habe, 20 Punkte hinter Bayer Leverkusen, und es sind nur noch acht Spiele zu spielen. Also mit der Meisterschaft wird es wahrscheinlich eng werden.
Aber ich glaube schon, dass Borussia Dortmund die Qualität und auch die Stärke besitzt, zumindest mal bei Bayern München ein sehr gutes Resultat zu erzielen.”
Sie haben ausreichend Erfahrung in solchen Spielen. Worauf kommt es da jetzt an? Mit welcher Marschroute muss Borussia Dortmund da reingehen?
Jürgen Kohler: “Sie müssen von Anfang an das Spiel bestimmen, sie müssen die ersten Zweikämpfe für sich entscheiden und sie müssen unmittelbare Torgefahr ausstrahlen, also zu Torabschlüssen kommen. Wenn einem das in München gelingt, dann haben die Bayern natürlich, weil sie defensiv auch nicht so stabil stehen, wie man sich das eigentlich wünscht, große Probleme.
Wenn Borussia Dortmund das schafft, wirklich die ersten Zweikämpfe für sich zu gewinnen und dann eben auch diese Kraft hat, nach vorne eiskalt zu sein, dann glaube ich schon, dass Borussia Dortmund eine Chance hat. Wobei Bayern natürlich immer, gerade zu Hause, auch sehr schnell vorlegt und sehr schnell Tore erzielen kann.
Deshalb wird es von Anfang an schon so ein Spiel sein, wer zeigt dem anderen erst mal die Kante. Heißt, wer gewinnt mehr Zweikämpfe. Und die Mannschaft, die das am Anfang tun wird, die wird mit ziemlicher Sicherheit auch das Spiel für sich entscheiden können.”
Sie haben es jetzt schon angesprochen, die Gegentore. Borussia Dortmund 32, die Bayern nur eins weniger. Man kann also davon ausgehen, dass Tore fallen werden. Was noch bemerkenswert ist, bei diesem Match, ist dass erstmals seit vierzehn Jahren diese beiden Mannschaften in der Bundesliga Rückrunde aufeinander treffen, ohne dass eines der beiden Teams Tabellenführer ist.
Jetzt wird wahrscheinlich Manuel Neuer ausfallen. Sehen Sie da eine Schwächung der Bayern oder kann man dieses Thema vernachlässigen?
Kohler: “Das kann man schon getrost vernachlässigen, glaube ich. Denn, wenn Sven gespielt hat, hat er auch immer seine Leistung gezeigt.
Er hat Bayern in dem einen oder anderen Spiel häufiger auch mal im Spiel gehalten. Da haben die Bayern natürlich schon eine sehr gute Nummer zwei und deshalb würde ich das, für das eine Spiel, als nicht so problematisch erachten.”
Dann gibt es noch das Thema Marcel Sabitzer. Der Ex-Bayernspieler, der natürlich hochmotiviert da reingehen würde, der hat im Länderspiel für Österreich nicht spielen können. Das Thema BVB und das Personal, wo sind da aktuell die Probleme?
Kohler: “Ich glaube schon, dass Probleme gerade auch auf der Sechs da sind, und auch auf beiden Außenverteidiger-Positionen ein paar Probleme da sind. Natürlich hat man mit Haaland einen ganz, ganz wichtigen Spieler, ganz vorne in der Spitze verloren, wo auch Haller, natürlich auch aufgrund seiner Krankheit, dann eben jetzt auch wieder ein bisschen gebraucht hat.
Er hat natürlich bei der Nationalmannschaft wieder Selbstvertrauen tanken können, hat dann aber wieder einen kleinen Rückschlag gehabt. Also, die größten Baustellen sind die beiden Außenverteidiger-Positionen und vor allen Dingen eine richtig gute Sechs, die das Bindeglied zwischen Verteidigung und Angriff ist. Aber eben nicht nur das Bindeglied ist, sondern auch der Stabilisator und Organisator.
Denn das braucht man im Spiel, dass gerade auf dieser Position viel kommuniziert wird, viel gesprochen wird. Das sehe ich im Moment bei Borussia Dortmund nicht. Aber ich verrate Ihnen ein Geheimnis, das sehe ich bei Bayern München auch nicht.”
Also da sehen Sie auch die Schwachstelle auf der Sechs und bei den Außenverteidigern?
Kohler: “Ja.”
Beim BVB ist eine große Diskussion im Gange. Mats Hummels, Marco Reus: Verträge verlängern oder würden Sie sagen, Cut machen, anders aufstellen?
Jürgen Kohler: “Zunächst mal sind das beide sehr verdienstvolle Spieler, die für Borussia Dortmund immer das Beste gegeben haben. Natürlich muss ein Verein irgendwann mal überlegen Generationswechsel, andere Spieler wieder heranzuführen.
Das war ja zu meiner Zeit auch nicht anders. Als dann Christoph Metzelder oder Christian Wörns kamen, die ja dann auch wesentlich jünger waren als ich und ich mich dann, aber schon vor der Saison eigentlich entschieden hatte, dass ich das nicht mehr so wollte. Einfach nicht mehr in diesem tagtäglichen Trainingsprozess sein zu wollen.
Und ich glaube, Mats Hummels ist ein sehr intelligenter Spieler, der auch merkt, dass er natürlich immer noch eine gewisse Qualität besitzt und die auch, in dem einen oder anderen Spiel, dann auch zeigt. Aber auf Strecke, glaube ich schon, dass man einfach das Alter spürt und dass man wieder länger braucht, wenn Verletzungen kommen und so kleinere Geschichten. Vor allen Dingen in den letzten zwei Jahren war er sehr häufig verletzt, im letzten halben Jahr hat er das eigentlich ganz gut stabilisiert und hat sich da wieder ein bisschen zurückgekämpft, hat sich auch wieder in den Fokus der deutschen Nationalmannschaft zurückgespielt.
Aber das Alter geht eben an keinem spurlos vorbei. Mats und auch Marco sind da intelligent genug, um zu sehen, vielleicht reicht es für meinen eigenen Anspruch, um das geht es ja eigentlich, nicht mehr. Wenn man den nicht mehr zu 100% erfüllen kann, sollte man eigentlich für sich die Entscheidung treffen, im Guten herauszugehen. Ich habe das damals, 2002, ja auch erleben dürfen. Wir sind sogar noch Meister geworden, waren sogar im Europacup im Endspiel, wo ich dann leider die rote Karte im letzten Spiel meiner Karriere dann erhalten habe.
Aber das gehört einfach auch ein Stück weit zum Leben eines Fußballers dazu. Trotzdem glaube ich, dass beide einen würdigen Abgang verdient haben. Und es wäre schön, wenn sich Borussia Dortmund zumindest für die Champions League wieder qualifizieren würde. Dann hätten beide noch mal, zum Abschluss ihrer Karriere, etwas Großartiges geleistet und dann sind einfach die Jüngeren dran.
Was dann beide tun werden, das wird man dann einfach sehen. Ob dann beide noch weiterspielen wollen, oder irgendwo anders, ins Ausland gehen wollen oder vielleicht im Fußball bleiben wollen, wovon ich jetzt mal ausgehe. Das sind so die Themen, die müssen die beiden aber für sich selbst entscheiden.”
Spieler-Leistungsdaten von Jürgen Kohler
Kohler über Zidane als Bayern-Coach: “Das ist sein größtes Manko”
Harry Kane wird wahrscheinlich fit werden. Wie würde ein Jürgen Kohler verhindern, dass er ein Tor schießt? Wie schaltet man den aus?
Kohler: “Er ist natürlich ein Spieler, der gerade im Abschluss eine brutale Qualität hat. Wenn man so einen Spieler hauteng markiert, dann hat der natürlich schon ein paar Vorteile, weil er einen dann einfach mit seiner Körpermasse ganz locker zur Seite drängen kann. Ich würde da immer empfehlen, für alle Abwehrspieler, den Spieler immer vor sich zu haben, immer zu beobachten, nie zu nah dran zu sein.
Vielleicht bei der Ballannahme ihn da schon spüren zu lassen, das wird hier mal keine einfache Sache für dich. Aber im Großen und Ganzen muss man bei so einem Spieler, der so eine Qualität besitzt wie er, das ist das oberste Gebot, über 100 Minuten hellwach sein. So einen Spieler darf man einfach nicht aus den Augen verlieren. Man muss genau wissen, wo er steht, man muss ihn sehen und vor einem haben. Das machen aus meiner Sicht viele Abwehrspieler falsch.
Die haben eigentlich nicht mehr die Gegenspieler vor sich, sondern die haben die oft im Rücken oder sehen auch nicht, wenn der eine kurze lange Bewegung oder eine lange kurze Bewegung macht, um auf den ersten Pfosten zu kommen. Da muss man den Spieler genau im Auge haben. Wenn man das hat, dann wird es für den Stürmer viel, viel schwieriger.
Ich glaube jetzt nicht, dass er, obwohl er eine gute Figur hat, so kopfballstark ist, dass das seine größte Stärke wäre. Ich glaube, dass er eher unten mit den Füßen stark ist, weil er eben rechts und links Abschlüsse hat. Darüber hinaus hat er natürlich das, was ein Stürmer braucht, dass er weiß, wo er stehen muss.
Deshalb sage ich, muss man den Spieler immer ein Stück weit vor sich haben, um ihn dann dementsprechend auch bearbeiten zu können.”
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Thomas Tuchel wird sich ja verabschieden. Dadurch ist jetzt die Trainerfrage eine ganz große. Da werden Namen gehandelt, wie Zinedine Zidane zum Beispiel. Wenn Sie Verantwortlicher wären bei Bayern, wen würden Sie ins Auge fassen?
Kohler: “Da haben Sie ja eben schon einen Namen genannt. Das ist ein Trainer, der sehr erfolgreich mit Real Madrid gearbeitet hat. Er kennt das also. Er kann mit dem Druck, der auch medial, bei so großen Vereinen herrscht, sehr gut umgehen. Er hat anscheinend auch ein gutes Gespür für die Spieler.
Er ist dreimal Champions League-Sieger geworden und das spricht natürlich für seine Qualität. Ein ganz groß Plus ist natürlich bei ihm, er war mal selbst Spieler. Er weiß also auch, wie die Spieler funktionieren. Er kennt den Geruch der Kabine, also er weiß, was in der Kabine los ist. Er weiß, was mit den Betreuern teilweise passieren kann oder passieren wird, in gewissen Situationen.
Wir haben ja ungefähr 82 Millionen Bundestrainer und Trainerinnen, das muss man einfach ganz klar so sagen. Und er hat natürlich den Vorteil, dass er eben bereits mit großen Stars gearbeitet hat. Er war selbst ein großer Star, deshalb glaube ich, wäre das eine gute und mögliche Option. Ein Problem sehe ich immer in der Sprache. Er spricht wahrscheinlich drei, vier Sprachen, aber ich habe jetzt nicht gehört, dass er Deutsch gelernt hat.
Das ist natürlich dann schon ein bisschen schwieriger. Wobei man aber auch internationaler geworden ist und mit der englischen Sprache sehr viele Themen abdecken kann. Aber das eine ist die Sprache, das andere ist die Mentalität, also wie funktioniert so ein Deutscher eigentlich? Das muss man dann auch wieder in die Gruppe bringen, denn bei Bayern gibt es in der Regel immer sehr viele deutsche Nationalspieler, und die finden das auch ganz toll, wenn dann einfach in der Muttersprache gesprochen wird.
Wobei das andere natürlich gar nicht mehr so problematisch ist, weil die können alle Englisch, aber es ist trotzdem eine andere Geschichte. In der Muttersprache kommen mehr Emotionen, Personality und all diese Themen doch ein Stück weit besser rüber, glaube ich. Da sehe ich eigentlich das ganz große Manko bei Zinedine Zidane.
Von der Qualität als Trainer und von den Titeln, die er geholt hat, bei einem ganz großen Klub, da bin ich überzeugt, würde er sehr gut zu Bayern München passen.”
Vielen Dank, Jürgen Kohler. Einen Ergebnis-Tipp müssen Sie uns noch liefern.
Jürgen Kohler: “Ich tippe wie jedes Jahr, wenn die gegeneinander spielen, auf ein 2:2.”
Sie wollen nochmal in den diplomatischen Dienst aufgenommen werden, oder?
Kohler: “Nein, ich habe ja für beide Vereine gespielt und ich habe beiden Vereinen viel zu verdanken. In meiner Karriere bei Bayern habe ich gelernt, dass der zweite Platz nichts wert ist. Und bei Borussia Dortmund habe ich gelernt, welche große Faszination die Zuschauer, die Menschen da haben.
Diese Leidenschaft, die die Menschen im Ruhrpott leben und dafür bin ich unsäglich dankbar. Deshalb möchte ich für beide Vereine immer nur das Beste und auch das Größte. Deshalb finde ich ein 2:2 gerecht und wir haben ja auch gesagt, da fallen viele Tore. Ein 2:2 finde ich daher eigentlich ganz gut.”
Nur noch eine schnelle Frage, ist die Meisterschaft schon entschieden?
Kohler: “Ja.”
Interview: Carsten Fuß