Seit mittlerweile 14 Jahren ist Stéphane Chapuisat der Trainer bei den Young Boys Bern und seit 2016 beim Schweizer Verband, für die er es immerhin auf vier WM-Einsätze brachte.
Der ehemalige Torschütze von Borussia Dortmund nahm sich die Zeit, einen Blick auf die Weltmeisterschaft 2022 in Katar zu werfen.
Stéphane Chapuisat erzählt, was er bei diesem Turnier besonders erwartet, wie er Deutschland und Frankreich einschätzt und warum die Schweiz für Sensation sorgen kann.
Stéphane Chapuisat: Deutschland kann den WM-Titel gewinnen
Wettbasis: Herr Chapuisat, was für eine Weltmeisterschaft werden wir erleben?
Chapuisat: “Allein die Tatsache, dass diese Weltmeisterschaft ausnahmsweise mitten in der Saison stattfindet, wird für viel Kuriosität und Spannung sorgen. Dass die Spieler gar keine Vorbereitung hatten, ist sicherlich keine gute Nachricht, sodass kaum taktisch gearbeitet werden konnte.
Auf der anderen Seite sind die Spieler wohl nicht so müde wie bei einer WM im Sommer, sodass die Hoffnung lebt, eine attraktive WM zu erleben.”
Was glauben Sie, wie wird man diese WM in zwei, drei Monaten in Erinnerung haben?
“Es wäre doch schön zu hören, dass es doch ein schönes Abenteuer mit vielen tollen Spielen war, viel Spektakel mit einem verdienten Weltmeister und keine Skandale. Dazu eine sehr professionelle Organisation, damit sich die Reise dorthin gelohnt hat.”
Welche Teams sehen Sie als absolute Top-Favoriten?
“Eigentlich immer die gleichen Nationen: Brasilien und Frankreich. Aber beide Teams haben auch wichtige Spieler, die ihre Teilnahme verletzungsbedingt absagen mussten, besonders die Franzosen mit Paul Pogba, N’Golo Kanté, Christopher Nkunku, Mike Maignan und Presnel Kimpembe.
Ich denke, dass die Tagesform bei dieser WM eine noch wichtigere Rolle als sonst spielen wird. Die Mannschaft, mit den meisten Spielern, die bis zum Ende top fit bleiben werden, wird wohl Weltmeister.”
Glauben Sie, dass Frankreich als amtierenden Weltmeister seinen Titel verteidigen kann?
“Das Potenzial haben die Franzosen ohnehin, keine Frage. Die Frage ist, ob die jungen Mittelfeldspieler in der Lage sind, diese Lücke zu schließen, die Paul Pogba und N’Golo Kanté hinterlassen werden.
In der Offensive sind sie bestens aufgestellt, egal wer dann von Beginn an spielt. Kylian Mbappé, Olivier Giroud, Antoine Griezmann, Kingsley Coman oder Ousmane Dembélé: Da sehe ich ehrlich gesagt keine andere Nation, die über solche Hochkarätige Spieler in ihren Reihen verfügt.”
Was wird bei einem solchen Turnier, mit so vielen Spielen in nur knapp vier Wochen, der Schlüssel sein zum Erfolg?
“Die interne Stimmung, wie die Spieler vier Wochen lang miteinander umgehen. Wenn sie alle in dieselbe Richtung schießen, werden sie mit hoher Wahrscheinlichkeit sehr weit kommen. Außerdem müssen sie wie eine Einheit auf dem Rasen auftreten.
Das ist in meinen Augen das A und O, um erfolgreich ein solches Turnier zu gestalten. Ich denke, dass die Stimmung in der Kabine den Unterschied ausmachen kann.”
Wie sehen Sie die deutsche Nationalmannschaft in diesem Jahr?
“Seit zwei Jahren sehen wir eine neue, interessante Generation an jungen Spielern. Mit ihrer Sieger-Mentalität kann die DFB-Elf tatsächlich schon in diesem Jahr den Titel gewinnen. Hansi Flick kann auf einen großen Bayern-Block bauen, der es gewohnt ist, alle drei Tage Spiele zu gewinnen.
Es sind allesamt Spieler, die einfach nie satt sind, sondern stets gierig bleiben, wie es besonders Joshua Kimmich wunderbar verkörpert. Außerdem greifen die Automatismen sofort. Es kann für die DFB-Elf nur von Vorteil sein.”
Aber die Ergebnisse und die Leistungen bei den Deutschen waren in den letzten Monaten nicht unbedingt zufriedenstellend.
“Auch wenn die Ergebnisse zuletzt vielleicht nicht immer gepasst haben, sorgt Flick für einen neuen Schwung in dieser Mannschaft.
Ich wäre nicht überrascht, wenn seine Schützlinge auf Rache setzen würden, nachdem sowohl die WM 2018 in Russland (Aus in der Vorrunde), als auch die EM 2021 (Aus im Achtelfinale gegen England) sehr enttäuschend verliefen.”
Wer gefällt Ihnen besonders bei den jungen deutschen Spielern?
“Natürlich ist Youssoufa Moukoko, von meinem Ex-Klub Borussia Dortmund, eine Augenweide, aber nichtsdestotrotz sollte man in ihm jetzt in Katar nicht zu hohen Erwartungen setzen. Der Junge ist erst jetzt 18 Jahre alt geworden, er hat kaum internationale Erfahrung vorzuweisen.
Dementsprechend kann man davon ausgehen, dass ihn der Bundestrainer eher behutsam aufbauen wird. Aber als Joker kann er sicherlich stechen und somit die große Entdeckung bei dieser WM werden.”
Nach einer erfolgreichen Europameisterschaft vor eineinhalb Jahren, mit dem Viertelfinal-Einzug – wo steht die Schweizer Nationalmannschaft?
“Erst einmal haben wir eine echte schwere Gruppe G mit Brasilien, Kamerun und Serbien erwischt. Nichtsdestotrotz haben wir die nötige Qualität um ins Achtelfinale einzuziehen. So lautet auch das erste Ziel.
Sollten wir die KO-Runde erreichen, ist dann vieles möglich. Egal, wie anschließend der Gegner heißen würde, werden wir eh nur der Außenseiter sein. Die Vergangenheit zeigt, dass wir mit dieser Rolle sehr gut umgehen und dass sie uns auch besser liegt.”
Ist sie nicht besser, irgendwie auch reifer in den vergangenen Monaten geworden?
“Die Schweiz bildet eine eingeschworene Truppe mit viel Talent, dazu eine gute Mischung aus jüngeren und erfahrenen Spielern. Murat Yakin leistet eine sehr gute Arbeit und ich bin fest davon überzeugt, dass sie erneut positiv überraschen kann.
An einem guten Tag, wenn alles passt, sind wir gar in der Lage, einen der WM Top-Favoriten auszuschalten.”
Wer sind die Leader dieses Teams?
“Klar, vor allem Granit Xhaka, bei Arsenal eine feste Größe und seit Wochen in bestechender Verfassung. Die Schweiz braucht ihn. Er ist auch disziplinierter, weil reifer geworden.
Seine Qualität bei Standards ist einfach großartig. Wichtig ist, dass wir das Turnier erfolgreich gegen Kamerun starten. Danach ist einiges drin.”
Auf der Torhüter-Position herrscht auch viel Betrieb.
“Auf dieser Position hatte die Schweiz so gut wie nie Probleme. Mit Yann Sommer, der nach seiner Verletzung bei Borussia Mönchengladbach frisch zur WM fährt, haben wir einen der besten Keeper der Welt.
Sollte ihm tatsächlich was passieren, stünde Gregor Kobel bereit, der sich bei Borussia Dortmund richtig gut weiterentwickelt hat.”
Sehen Sie junge Talente in der Mannschaft, die eine der Sensationen werden könnten?
“Ardon Jashari und Fabian Rieder gelten als die größten Hoffnungsträger. Dazu bin ich auf Noah Okafor gespannt, der sich bei RB Salzburg toll emanzipiert hat.”
Stéphane Chapuisat Interview: Alexis Menuge